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Wandertage |
Schwierigkeit |
Webcams |
6
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T2 |
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Sechs Tage - sieben Pässe
im südöstlichen Graubünden
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zur
Detailkarte (gezeichnet
mitSchweizMobil Plus)
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Maria Innitzer hat
letztes Jahr das Bernina-Massiv
umrundet, allein und mit Zelt. Nun war sie wieder in
dieser Gegend und hat folgenden Bericht eingeschickt,
den sie gerne teilen möchte.
Herzlichen Dank!
Im September 2019
habe ich eine Wanderung mit Rucksack und Zelt
durchs südöstliche Graubünden gemacht, und dabei in
sechs Tagen sieben Pässe überquert.
- Anreise: Die Anfahrt
erfolgte mit dem Auto von Wien nach Silvaplana, wo ich
eine Nacht am Campingplatz verbrachte. Das Auto stellte
ich in Surlej ab und nahm dann einen Bus nach St. Moritz.
Von dort ging es mit der Rhätischen Bahn nach Bergün, wo
ich meine Wanderung begann.
1. Tag Bergün -
Elahütte - Elapass - Cotschna
Mein Wandertag
beginnt etwas spät, gegen elf Uhr, als ich den Bahnhof von Bergün
(1367m) verlasse. Bereits hier findet sich ein Wegweiser
Richtung Elahütte, den ich also einschlage.
Erst geht es durch den Ort, dann über eine Schotterstraße und
weiter auf einem Waldweg. Es gibt einen Naturlehrpfad, so
erfahre ich, dass Alphörner aus Fichtenholz gemacht werden.
Zugleich kann ich den Klang von Alphörnern vernehmen, der aus
dem Tal herauf klingt. Auch eine Tafel mit einer Studie über
die Relevanz der Mondphasen bei der Holzschlägerung erregt
meine Aufmerksamkeit. Ich komme an einer Höhle vorbei, die
wohl bei Schlechtwetter gut als Unterschlupf dienen würde.
Doch heute ist es sonnig. So gehe ich leicht ansteigend durch
den Wald. Weiter oben säumen Heidelbeersträucher den Weg.
Gegen 14Uhr 30 erreiche ich die Baumgrenze nahe der Alp
Ulix. Hier mache ich eine kurze Rast auf einem
Findlingstein - endlich wieder richtig am Berg!
Es geht weiter ein Stück bergauf, dann erreiche ich eine
Hochfläche mit fantastischem Ausblick in alle Richtungen. In
nicht allzu weiter Ferne kann ich bereits die Elahütte (2196m)
und das Tinzenhorn sehen. Die Hütte ist sehr schön am Fuße des
Tinzenhorns gelegen und macht einen äusserst gepflegten
Eindruck. Allerdings ist sie nicht bewirtschaftet und ausser
mir niemand da. Ich werfe einen Blick in die Hütte, trage mich
ins Hüttenbuch ein, und fülle meine Wasservorräte am Brunnen
auf. Dann setze ich meine Wanderung auf dem Walserweg Richtung
Elapass (2724m) fort.
Das Gelände ist zunehmend alpin, der Weg führt sanft
ansteigend durch Schotter und Geröll. Dinosaurierspuren, wie
es sie in der Gegend geben soll, kann ich leider keine
ausmachen, doch allein der Gedanke erfüllt mich mit tiefem
Staunen. Ebenso die Tatsache, wie viel Blumen in all dem
Geröll immer wieder zu sehen sind. Am Abstieg Richtung
Cotschna, einem kleinen Tal auf der anderen Seite des
Passes, liegen kleine Seen und Murmeltierbauten, wobei ich die
Tiere nicht sehen, aber gut riechen kann. Zwei Wanderer kommen
mir entgegen, sie wollen zur Elahütte. Es ist die einzige
Begegnung mit Menschen, die ich heute haben werde. Am
Himmel ziehen Wolken auf, und ich merke, dass die Tage
deutlich kürzer sind als im Hochsommer. Im Tal angekommen
überquere ich einen Bach, der kurz vor dem Weidezaun der Alp
Viglia versickert. Auf der anderen Seite des Zaunes sehe
ich eine große Herde Kühe. So beschließe ich, ein kurzes Stück
zurück zu gehen, um mein Zelt auf etwa 2000m aufzuschlagen und
einen guten Wasserzugang zu haben. Bis ich alles aufgebaut
habe, dämmert es schon. Ich koche mit Spaghetti Bolognese -
das Ragu habe ich zu Hause selbst gemacht und in getrockneter
Form mitgenommen. Ein bisschen extra Olivenöl und Appenzeller
dazu, und ich bin mit dem Ergebnis hochzufrieden. Als
Nachspeise gibt es selbstgemachten Müsliriegel und Schokolade.
Bald kuschle ich mich in meinen warmen Schlafsack und schlafe
ein.
2. Tag Cotschna -
Fuorschella da Colm - Alp Flix - Bivio - Fumia
Als ich aufwache,
höre ich schon den Regen aufs Zelt prasseln. Ich koche mir Tee
und Porridge mit Äpfeln und Bananen zum Frühstück, und hoffe,
dass der Regen aufhört. Das tut er leider nicht, und so packe
ich meine Sachen zusammen und setze meinen Weg fort.
Erst geht es das Tal hinunter durch die Kuhweide, dann
schwenkt der Weg nach Südosten Richtung Alp Err. Kurz
vor der Alp befindet sich eine kleine Hütte, die aber nicht
mehr bewirtschaftet zu sein scheint. Von hier geht es wieder
bergauf nach Südwesten über Parsettens zur Fuorschella
da Colm (2399m). Schon am Aufstieg beginnt es zu
schneien. Doch der Weg ist trotz des Neuschnees immer klar,
offensichtlich hat sich der Weg über hunderte Jahre so in die
Landschaft geschrieben, dass es für mich keinen Zweifel gibt,
wo er entlang geht. Es geht weit über der Baumgrenze dahin,
den Abstecher zum Piz Colm mache ich bei diesem Wetter nicht.
Ich umrunde einen Felsrücken, überquere mehrere Wasserläufe,
bis mir ein Weidetor signalisiert, dass ich nicht mehr weit
von meinem heutigen Zwischenstopp, der Alp Flix bin. Am nun
folgenden Forstweg begegnet mir ein Jäger, und ich kann schon
die Jurten, die zur Alp Flix gehören, sehen.
Als ich auf der Alphütte eintreffe, ist es Mittag. Im Gastraum
sitzen Jäger und Arbeiter. Ich frage, ob ich mich kurz wärmen
kann. Die beiden freundlichen Damen an der Schank meinen:
“ruhig auch länger”. Mit klammen Händen betrete ich den
Gastraum, setze meinen Rucksack ab, und beginne, meine nassen
Sachen auszuziehen. Als mich einer der Gäste fragt, ob es oben
schneie, bemerke ich, dass auf meinem Rucksack ein
beachtlicher Schneehaufen thront. Wortlos packe ich den Schnee
zusammen und trage ihn nach draussen. Nachdem ich meinen
Rucksackinhalt buchstäblich auseinander genommen habe,
Schlafsack, Matte und Kleidung neben dem Ofen, den ich selbst
nachlegen darf, trockne, frage ich, ob es etwas zu essen gäbe.
Es gibt Gerstensuppe, die extra frisch für mich gemacht wird.
Die Arbeiter und Jäger sind längst verschwunden, eine Gruppe
Wanderer aus Hannover trifft ein. Wir unterhalten uns. Sie
sind in Savognin einquartiert, werden hier in einer der Jurten
übernachten, und morgen zurückgehen. Draussen hat sich das
Wetter inzwischen gebessert, hinter den Wolken sehe ich blauen
Himmel durchblitzen.
Nach insgesamt drei Stunden breche ich gestärkt und ausgeruht
auf, Richtung Bivio. Ich wähle den Waldweg über die Via
Sett oberhalb von Marmorera und die Alp Natons. Es gäbe
noch eine andere Wegführung über den Kanonensattel, doch ich
beschließe, dass mein Bergerlebnis für heute erledigt ist. Am
Waldweg steht ein Schild, dass es sich hier um eine
Pilzruhezone handelt. Tatsächlich finden sich am Wegesrand
unzählige Pilze der verschiedensten Sorten, die einen
wunderbaren Geruch verströmen. Auch weist ein Schild auf Reste
vorzeitlicher Kupferschlacke hin, die sich hier am Weg findet.
Ein Frosch hüpft über den Weg. Zur Alp Natons windet
sich ein Forstweg hinauf, dann geht es hinunter nach Bivio.
Im Ort befindet sich ein einziges offenes Lokal, das ich
allerdings nicht betrete. Davor ein Müllkontainer voll mit
alten Schiern. Der Campingplatz ist nicht angeschrieben.
Später sehe ich, dass es sich dabei eher um einen
Wohnwagenstellplatz an der Julierpassstraße am Ortsausgang
handelt.
Also setze ich meinen Weg in der Abenddämmerung fort Richtung
Septimerpass. Nach der Bergstation des Skilifts führt ein
Schotterweg an Alphäusern vorbei. Ausser einem kurzen
Hundebelllen scheint alles verlassen. Als ich mich dazu
entschließe, beim nächsten erleuchteten Haus zu fragen, ob ich
zelten kann, brennt nirgendwo mehr Licht. Laut Karte gibt es
bei Fumia (ca. 2000m) eine Besenbeiz (Jausenstation).
Vor der Station hängt ein Schild: Besen oben - offen. Der
Besen zeigt nach unten. Zwischen der Jausenstation, die über
dem Bach liegt, und der Strasse schlage ich bei Einbruch der
Dunkelheit und beginnendem Regen mein Zelt auf. Mir ist kalt.
Ich lege mich gleich in den Schlafsack, esse Müsliriegel und
Schokolade, dann schlafe ich ein. Im Halbschlaf nehme ich
Autoscheinwerfer war, die aber wieder in der Ferne
verschwinden.
3. Tag Fumia - Septimerpass - Lunghinpass
- Silvaplana
Als ich in der Früh
aufwache und den Zelteingang öffne, merke ich, dass das Zelt
über Nacht gefroren ist. Schnell mache ich wieder zu, denn
drinnen ist es im Schlafsack angenehm warm. Ich ziehe mich an,
und koche Tee und Porridge mit getrockneten Äpfeln und
Bananen. Obwohl strahlend blauer Himmel ist, macht das Zelt
keine Anstalten aufzutauen. Schlafsack und Isomatte sind über
Nacht vom Kondenswasser recht feucht geworden. Auch darum
werde ich mich später kümmern müssen. Ich baue das Zelt ab und
schlüpfe zuletzt in meine gefrorenen Schuhe und die feuchten
Handschuhe.
Ich folge der Schotterstraße, an deren Ende ein Pfeil nach
links “zu den Bergwanderwegen” zeigt. Am Strassenrand ist ein
Auto parkiert, wohl das von gestern Abend. Hinter dem zu
durchquerenden Alpgatter stehen Kühe. Bald sehe ich auch die
beiden Hirten, und noch einen Elektrozaun, dahinter etwa
hundert Kühe. Ich schaue fragend, ob ich da jetzt echt
durchgehen soll. Da schallt mir ein aufmunterndes “Gaht scho”
entgegen, und ich passiere problemlos.
Der Wanderweg führt jetzt durch ein weites Hochtal, durchzogen
von Wasserläufen, mit Blick auf den Piz Turba Richtung
Septimerpass. Es ist ganz still, ich höre nur meinen Atem und
fühle mich verbunden mit der Natur, fasziniert von der durch
den Gletscher geformten Landschaft. Die Schuhe sind inzwischen
aufgetaut, meine Füße warm, und auch die Handschuhe durch
meine Körperwärme etwas getrocknet. Schließlich erreiche ich
den Septimerpass (2310m) und genieße den großartigen
Ausblick, in der Ferne erkennt man sogar den Piz Badile.
Während ich die Aussicht genieße, kommen zwei Gruppen, jeweils
mit Bergführer dazu.
Ich gehe etwa hundert Meter retour und folge dem Schild
“Abkürzung Lunghin”, wiewohl ich weiß, dass es am Berg keine
Abkürzung gibt. Der nun folgende Weg ist gut ausgebaut und
führt anscheinend an Bunkeranlagen vorbei. Türen und Ofenrohre
im Fels lassen nicht viele andere Möglichkeiten offen. Hier
oben liegt recht viel Schnee, doch die Markierungen sind gut
zu erkennen. Wieder treffe ich auf zwei Wanderer mit
Bergführer, sie sind auch am Weg zum Lunghinpass (2645m).
Oben ist es geradezu winterlich. Hier befindet sich auch eine
dreifache Wasserscheide. Richtung Nordosten fließt das Wasser
in den Inn und weiter ins Schwarze Meer. Nach Nordwesten über
die Julia in die Nordsee, und nach Südwesten über die Mera ins
Mittelmeer. Für eine längere Pause ist es mir dann doch zu
unwirtlich.
Durch Schnee und Geröll steige ich zum Lei Lunghin
(2484m) ab, an dessen Ufer jemand ein großes Herz in den
Schnee geschrieben hat. Von hier bietet sich ein großartiger
Blick auf die großen Gipfel der Berninagruppe. Ebenso kann ich
im Süden den Murettopass erkennen, der schneefrei zu sein
scheint. Ursprünglich wollte ich von hier nach Maloja
absteigen, um über den Malojapass und den Murettopass einen
Abstecher nach Italien zu machen. In Anbetracht meiner nassen
Ausrüstung und der eisigen Temperaturen entschließe ich mich,
statt dessen einen Umweg über Sils und Silvaplana zu machen,
wo ich am Campingplatz meine Sachen trocken kann. Ausserdem
würde ich meinen inzwischen dezimierten Proviant aufbessern
können.
Ich nehme den Weg, der den Hang entlang nach Osten führt und
genieße das Panorama. Hier ist wieder alles schneefrei. Nur
vereinzelt kommen mir Wanderer entgegen. Kurz geht es durch
Geröll, dann schwenkt der Weg nach links und verläuft hinter
einem Felsrücken. Hier ist es relativ windgeschützt und ich
mache Rast. Auf meinem Campingkocher mache ich mir wieder
Spaghetti Bolognese mit dem Rest vom Appenzeller.
Dann folge ich dem Weg weiter, überquere Wasserläufe und
erreiche schließlich die Abzweigung nach Grevasalvas.
Am Wegesrand wachsen Himbeeren, die köstlich schmecken. Ich
nehme die Abzweigung nach links Richtung Sils. Aus der Ruine
einer Steinhütte wachsen Eschen und wieder Himbeeren. Von
unten strahlt der Silsersee in einem fast unwirklichen
Dunkelblau. Der Weg führt erst über Wiesen, dann durch den
Wald sanft abfallend nach Sils Baseglia.
Mit Blick auf den See zur Rechten und das Hotel Waldhaus, das
wie eine Festung am Hang gegenüber steht, erreiche ich am
späten Nachmittag Sils Maria (1809m). Am Brunnen fülle
ich meine Wasservorräte auf. In Anbetracht der fortgeschritten
Uhrzeit nehme ich den bereitstehenden Bus nach Silvaplana.
Beim dortigen Volg kaufe ich gerade rechtzeitig vor
Ladenschluss Proviant und hole dann in Surlej mein Auto, in
dem ich noch Müsliriegel habe.
Als ich am Campingplatz eintreffe, ist es bereits dunkel.
Während ich erst eine heiße Dusche genieße und dann auf der
Terasse des Aufenthaltsraumes Tortellini koche, trocknet meine
Ausrüstung im Trockenraum, was für eine segensreiche
Erfindung! Nach dem Essen schreibe ich Tagebuch und lade mein
Mobiltelefon auf. Spät hole ich meine inzwischen trockenen
Sachen aus dem Trockenraum und baue mein Zelt auf.
4. Tag Maloja -
Murettopass - Pian dell’Oro
Die Nacht verläuft
halbwegs trocken, aber nachdem ich schon die Gelegenheit habe,
bringe ich während des Frühstücks den kondenswasserfeuchten
Schlafsack und die Isomatte in den Trockenraum. Ich packe
zusammen und fahre mit dem Auto nach Maloja, um den
ursprünglich geplanten Verlauf der Wanderung fortzusetzen.
Es ist ein sonniger Morgen, die Berge spiegeln sich im
Silsersee. Vom Malojapass (1815m) führt der Weg an
der Hochwassermauer Orden und dem Haus der Stiftung Salecina
vorbei. Über eine Brücke erreiche ich einen Forstweg, auf dem
es sanft ansteigend zum Lej Cavloc (1907m)
geht. Unweit hinter dem See liegt die gleichnamige Alp. Als
ich vorbeigehe, werden gerade die Ziegen für den Alpabtrieb
zusammengesammelt. Vorbei an einem Brunnen und mit Blick auf
den Monte Forno führt der Weg durch den Wald Richtung Plan
Canin. Ich begegne einer Familie mit zwei Schulkindern, sie
wollen heute noch zur Fornohütte.
Am Plan Canin (1975m) ist die Baumgrenze
erreicht. Flache Steine und der großartige Ausblick auf Monte
Forno und Val Muretto laden zur Rast ein, was ich gerne nütze.
Ich koche mir ein letztes Mal auf dieser Wanderung Spaghetti
Bolognese. Ich bleibe noch eine Weile sitzen, schließe die
Augen. Als ich die Augen wieder öffne, nehme ich die
Landschaft noch intensiver wahr. Ich setze meinen Weg fort,
überquere erst eine Brücke, dann geht es zunächst über Wiesen,
später durch Schotter und Geröll bergauf Richtung Murettopass.
Ich kenne die Strecke bereits von meiner Wanderung hier im
Juli, als noch Schnee lag. Ohne Schnee geht es sich bedeutend
schneller und leichter. Auf halber Höhe führt der Weg ein
breites, fast ausgetrocknetes Flussbett entlang. Ich bewundere
die vielen verschiedenen Gesteine, die aus dem schwarzen Sand
herausstehen. Dann geht es kurz noch einmal steil bergauf, zum
Teil weglos, durch Schotter und Geröll, meine Hände muss ich
jedoch nicht einsetzen, bis schließlich der Murettopass (2562m)
erreicht ist.
Von hier bietet sich ein fantastischer Ausblick in beide
Richtungen, mit Hilfe der Karte gelingt es mir, einige der
markanten Gipfel zu benennen. Während gegen Norden die
unendliche Weite beeindruckt, scheinen gegen Süden vor allem
Monte Disgrazia, Pizzo Cassandra und das Ventinatal zum
Greifen nahe. Inzwischen sind Wolken aufgezogen und am Pass
weht ein kalter Wind.
Der nun folgende Abstieg erfolgt auf einem gut ausgebauten
Weg, der schließlich zu einer Schotterstraße wird. Knapp
unterhalb der Baumgrenze zweigt ein Pfad links in den Wald ab,
der zur Alpe dell’Oro (2010m) führt. Die Nadeln
der Lerchen beginnen sich hier schon gelb zu verfärben, und
die gelben Zweigspitzen ragen wie Pfeile aus dem Grün hervor.
Auf der Alpe dell’Oro hat der Alpabzug offensichtlich schon
stattgefunden, doch der Brunnen funktioniert noch, sodass ich
meine Wasservorräte auffüllen kann.
Eigentlich hatte ich geplant, hier meine Tagesetappe zu
beenden. Nachdem ich aber bedeutend schneller unterwegs bin,
als geplant, beschließe ich noch weiterzugehen, es wären noch
gute zwei Stunden Tageslicht, sodass ich heute noch die Alpe
Fora erreichen müsste. Leider wird dann doch nichts aus diesem
Plan. Nachdem ich also den Weg entlang der Baumgrenze
fortsetze, beginnt es nach einer halben Stunde zu donnern, und
es fallen die ersten Tropfen. Schnell baue ich das Zelt
zwischen niedrigen Nadelbäumen und Wacholderbüschen auf. Ich
finde gerade Unterschlupf, da ist das Unwetter schon in vollem
Gange, es hagelt sogar. Wieder bin ich froh, mein Zelt
mitzuhaben, und so nicht abhängig von den rar gesäten Hütten
zu sein, oder ins Tal absteigen zu müssen. Nach einer Stunde
hat sich das Wetter beruhigt, doch zum Weitergehen ist es
jetzt zu spät. Ich koche mir Couscous mit Zucchini und Käse.
Der Wind hat die Wolken weggefegt, und so habe ich einen guten
Ausblick auf Monte Disgrazia, Alpe Ventina und Pizzo Cassandra
im Süden. Später erleuchten Millionen von Sternen den
Nachthimmel. Einmal höre ich noch einen Hund bellen, doch er
kommt nicht näher, und so schlafe ich schnell ein.
5.Tag Pian dell’Oro - Rifugio Longoni -
Alpe dell’Oro - Murettopass - Lej Cavloc
Ich habe eine ruhige
und erholsame Nacht verbracht, als ich um sechs Uhr morgens
aufwache. Hat die Nacht auch sternenklar begonnen, höre ich
jetzt das vertraute sanfte Klopfen des Regens. Ich lasse mir
Zeit, mache Frühstück, und breche gegen acht bei sanftem
Nieselregen auf.
Der Weg führt weiter an der Baumgrenze den Hang entlang, mal
auf, mal ab. Die Blumen sind bis auf meterhohe Disteln
großteils verblüht, die Wiesen nicht gemäht. Der Weg ist
teilweise zugewachsen, dafür hört der Regen langsam auf. Durch
ein Waldstück trete ich auf eine Wiese hinaus, von der ich
hinunter ins Valmalenco blicke. Heidelbeer- und
Preiselbeersträucher säumen den weiteren Weg zur Alpe Fora.
Diese ist nicht mehr bewirtschaftet, leider funktioniert auch
der Brunnen nicht mehr. Doch meine Wasservorräte würden
ohnehin bis zum Rifugio Longoni reichen. Jetzt geht es hinauf
zu einer weiten Hochfläche, dahinter ragen die Felsen auf. Der
Sasso Entova mit seiner markanten Streifenzeichnung ist von
Nebel verhangen. Das letzte Stück zum Rifugio Longoni (2450m)
verläuft im Fels, ist aber problemlos und ohne Einsatz der
Hände zu bewältigen.
Am späten Vormittag komme ich auf der Hütte an. Es gibt ein
freudiges Wiedersehen mit dem Hüttenwirt, Elia, den ich im
Juli bei meiner Umrundung der Berninagruppe kennengelernt
habe. Während ich meine Schuhe und Ausrüstung trocknen lasse,
nehme ich an einem der Tische Platz. Als mir etwas zu essen
angeboten wird, nehme ich natürlich an. Ich bekomme Polenta
mit Fleisch, und als Nachspeise einen Apfelkuchen. Auf der
Hütte sind auch ein paar andere Wanderer, sie wollen heute zum
ehemaligen Rifugio Scersen. Ein Ziel, das mich auch sehr
reizen würde, doch leider habe ich diesmal nicht genügend
Zeit. So breche ich gegen dreizehn Uhr gestärkt wieder auf, um
mich auf den Rückweg zu machen.
Draussen scheint inzwischen die Sonne. Noch ein gemeinsames
Foto mit Elia, und es geht los. Einerseits weiß ich, dass ich
mich beeilen sollte, da es jetzt schon um sieben dunkel wird,
andererseits möchte ich die Landschaft, die Natur und das
schöne Wetter genießen. So mache ich doch immer wieder Fotos
und nasche von den Heidelbeeren am Wegesrand. Um 15 Uhr 30
erreiche ich die Alpe dell’Oro (2010m) und mache kurz
Pause am Brunnen mit Blick auf den Monte Disgrazia und das Val
Sissone.
Dann geht es weiter Richtung Murettopass. Am Weg hinauf kommt
mir eine Gruppe mit Bergführer entgegen. Sie gehen nach
Chiareggio und sprechen mir anerkennende Worte zu. Leider
reicht mein Italienisch nicht für eine längere Unterhaltung.
Am Wegesrand steht mitten im Fels ein altes Geländemotorrad,
vom Besitzer keine Spur. Wieder faszinieren mich die Steine,
einer davon erinnert an eine kubistische Skulptur, und so
nehme ich ihn als Erinnerung mit. Wie geplant erreiche nach
zwei Stunden den Murettopass (2562m) in
der Abendsonne. Ein letzter Blick zurück nach Italien, und ich
beginne mit dem Abstieg.
Auf der Schweizer Seite liegt links vom Pass ein kleines
Plateau, von dem auch ein Weg führt, der das Steilstück
unmittelbar hinter dem Pass umgeht. So nehme ich diese Route,
nachdem ich mir die Chance, mit dem schweren Rucksack am
Steilstück auszurutschen, lieber entgehen lassen möchte.
Unten, beim ausgetrockneten Flussbett führen die Wege wieder
zusammen. Hier geht es einige Zeit eben entlang, bevor der
Weg, jetzt parallel zu Fluss und Geröll, den Hang abwärts zum
Plan Canin (1975m) geht. Als ich dort eintreffe ist es
schon dunkel, und ich kann leider keinen geeigneten Zeltplatz
ausmachen.
Also gehe ich mit der Stirnlampe den gut ersichtlichen fast
eben verlaufenden Weg weiter. Zunächst scheinen alle ebenen
Flächen neben dem Weg sumpfig zu sein, auf der ersten
trockenen Fläche erblicke ich ein Warnschild für mögliche
Überflutung je nach Betriebszustand des Wasserkraftwerks. Ein
Blick aufs GPS sagt mir, dass der Lej Cavloc (1907m) ohnehin
nur noch einige hundert Meter entfernt ist, und so freue ich
mich darauf, einen oft gehegten Traum heute verwirklichen zu
können. Am Brunnen neben der Alp Cavloc hole
ich Wasser. Als ein Hund bellt, und sich im und vor dem Haus
der Schein einer Stirnlampe zeigt, lasse ich mich nicht aus
der Ruhe bringen. Doch weder Hund noch Besitzer kommen auf
mich zu. Ich gehe vor zum See, gehe links etwas am Ufer
entlang, um nahe einer Feuerstelle mein Zelt aufzuschlagen.
Als alles fertig aufgebaut ist, und ich die Stirnlampe
ausmache, bin ich überwältigt vom Sternenhimmel - diesmal ist
die Milchstraße ganz eindeutig zu sehen und wenn ich länger in
den Himmel schaue, scheinen die Sterne zu tanzen. Mitten
unterm Tagebuchschreiben schlafe ich nach diesem langen Tag
ein.
6.Tag Lej Cavloc -
Maloja; Sils: Marmorè, Chaste und Nietzschehaus
Als ich morgens das
erste Mal aus dem Zelt schaue, verblassen gerade die letzen
Sterne in der Morgendämmerung. Der Himmel ist wolkenlos, die
Berge spiegeln sich im ruhigen See, Eindrücke, deren
überwältigende Schönheit nicht gebührend am Foto festgehalten
werden kann. Ich versuche es natürlich trotzdem. Dann koche
ich mir ein Frühstück und packe zusammen. Inzwischen hängt
hinter dem nächsten Bergrücken Richtung Maloja eine
dicke Wolke. Als ich eine Stunde später im Ort ankomme, ist er
ganz unter der Wolke verschwunden.
Mit dem Auto fahre ich nach Sils, wo ich es vor dem
Ortseingang von Sils Baseglia auf dem Parkplatz neben
der Straße abstelle. Es ist eiskalt und neblig. Doch ich
möchte unbedingt nach Marmore hinauf, um über Nebel und Wolken
einen Ausblick auf den See zu haben. In der Bäckerei kaufe ich
mir Kakao und Birnbrot, in der optimistischen Annahme, dass
ich auf Marmorè Picknick machen würde. Also folge ich der
Hauptstrasse nach links und erklimme hinterm Nietzschehaus die
Stufen zum Steig Richtung Marmore. Langsam windet sich der Weg
durch den Wald hinauf. Auf halber Höhe bietet sich immer
wieder ein Ausblick auf den See und den Ort, sowie die
Wolkenschwaden. Weiter oben kommen mir zwei Wanderer entgegen.
Sie meinen oben sei leider Nebel, und daher keine so schöne
Aussicht. Doch als ich schließlich oben auf Marmorè
(ca 2200m) ankomme, hat sich dieser Nebel gelichtet und
ich kann den See, die Wolken, und die Landschaft bis weit über
den Malojapass überblicken. Für ein Picknick ist es mir
allerdings zu kalt. Ich verweile nur kurz, nehme einen Schluck
Tee aus der Thermoskanne und steige wieder ab.
Jetzt ist es Mittag. Nachdem das Nietzschehaus, das ich
diesmal besuchen will, erst um 15 Uhr aufsperrt, gehe ich
zurück nach Baseglia, vorbei am Haus, in dem Annemarie
Schwarzenbach, eine Reisende und Suchende, viel Zeit verbracht
hat, und in dem sie 1942, mit nur 34 Jahren, an den Folgen
eines Fahrradunfalls verstorben ist. Ich nehme jetzt den Weg
zur Halbinsel Chastè. Der See ist immer noch glatt, am
Ufer liegen immer wieder Boote. An der westlichen Spitze
befindet sich ein Stein, in den ein Gedicht von Friedrich
Nietzsche (Das trunkene Lied aus "Also sprach Zarathustra")
eingraviert ist. Hier befinden sich auch zwei Bänke mit Blick
auf den See. Ein letztes Mal auf dieser Wanderung baue ich
meinen kleinen Kocher zusammen und mache ein Resteessen -
Haferflockensuppe mit Käse und Zucchini. Die Dose Thunfisch zu
Ehren Annemarie Scharzenbachs darf auch nicht fehlen. Als
Nachspeise gibt es das morgens erworbene Birnenbrot. Ein
älterer Herr kommt auf mich zu, er muss auf die 90 zugehen,
geht am Stock, selbst bezeichnet er sich als steinalt. Er
kommt aus Norddeutschland, und macht jetzt Urlaub in
Pontresina. Er habe den Postbus nach Sils genommen, und sei
den ganzen Vormittag hier heraus marschiert, um die Tafel mit
dem Gedicht zu besuchen. Er könne das Gedicht auswendig,
bringe jedoch immer wieder die Verse durcheinander. Ich sage,
dass es mir genauso ergehe. So lesen wir gemeinsam laut von
der Tafel ab. Er macht sich dann wieder auf den Weg, um ins
Nietzschehaus zu gehen. Ich verweile noch ein wenig, übersetze
für russische Gäste das Gedicht auf französisch (geht ganz
gut, zumal ich da schon mal eine Übersetzung gesehen habe) und
etwas holprig (spontan) auf englisch.
Dann mache auch ich mich auf den Weg zum Nietzschehaus. Am Weg
über die weite Wiese zwischen See und Strasse sehe ich den
alten Herrn auf einer Bank Rast machen. Seine Gebrechlichkeit
gepaart mit Beharrlichkeit lassen mich demütig werden.
Um 15 Uhr treffe ich beim Nietzschehaus
ein. Es ist nicht mein erster Besuch hier, doch wie
jedesmal ist es mir eine große Freude, in der Dauerausstellung
Bekanntes wiederzusehen und Neues zu entdecken. Heute ist
Julia Rosenthal, die Enkelin von Oscar Levy anwesend. Levy war
ein deutscher Arzt, der Anfang des 20. Jahrhunderts nach
England ausgewandert ist, und dort die erste englische
Nietzscheübersetzung verfasste. Wir kommen ins Gespräch, und
sie nimmt für mich Levys Dissertationsschrift und seine
Patientendokumentation aus der Vitrine, sodass ich ein wenig
darin lesen kann. Fast zwei Stunden verbringe ich hier, bevor
ich zu meinem Auto zurückkehre.
Beim Volg kaufe ich Rivella und Engadiner Nusstorte als
Mitbringsel für meine Schwester, die ich noch am Abend in
Bozen besuchen werde.
Um 17 Uhr ist endgültig Abfahrt, um 20 Uhr treffe ich in Bozen
ein. Ich werde bestimmt bald wieder in die Gegend kommen, um
die Berge und die Geschichte weiter zu erkunden.
Infos
Trekkingrouten in der Gegend:
- Bernina-Umrundung
mit Zelt, 10 Tage
- Via Engiadina - Engadiner
Höhenweg, 10 Tage
- Engadin und Südbünden,
15 Tage
- Engadin -
Pontresina - Berninapass - Alp Grüm - Poschiavo - Tirano (I),
7 Tage
- Oberengadin - Bergell:
Poschiavo - Berninapass - Maloja - Soglio, 7 Tage
- Tschiertschen - Engadin
- Tirano, 10 Tage
- Valtellina - Valmalenco:
Tirano - Veltlin - Chiareggio, 7 Tage
- Von Bivio ins Oberengadin,
6 Tage
- Bernina-Trek, eine Hüttentour im
Oberengadin, 7 Tage
- Grenzschlängern ums
Puschlav: Vom
Berninapass nach San Romerio und über Italien ins Val da
Camp, 8 Tage
- Trekking Nationalpark, 3 Tage
- Kesch-Trek, eine
4-tägigeHüttenwanderung zwischen Flüela und Albula
- Savognin - Zuoz; Naturreservate in
Graubünden, 8 Tage
- Zu Fuss von Chur ins Puschlav, 7
Tage
- Via Valtellina: Schruns (A) -
Klosters - Davos - Engadin - Veltlin (I), 8 Tage
- Quer durch
Graubünden, 7-tägige Hüttenwanderung
- Bündnerland-Tour,
7-tägiges Trekking
- Via Surmirana - Römerwege vom
Engadin nach Thusis, 5 Tage